Im Gespräch mit Marc Brütsch «Deutschland wird besser durch die Krise kommen als andere Länder Europas.»

Marc Brütsch, der Chef-Ökonom der Swiss Life, teilt wertvolle Einschätzungen zur ökonomischen Erholung nach der Corona-Pandemie mit uns und zieht einen Vergleich zur Finanzkrise des letzten Jahrzehnts.

Das erste Halbjahr 2020 stand ganz im Zeichen der weltweiten Corona-Pandemie. Wie sieht die Prognose für die kommenden sechs Monate aus?

Das Coronavirus führte im ersten Halbjahr 2020 zu einem beispiellosen Einbruch der Konjunktur, speziell im zweiten Quartal. In der Eurozone sank der Einkaufsmanagerindex (PMI) für den Dienstleistungssektor im April auf 12.0 Punkte – so tief wie noch nie, und weit unter die 40.9 Punkte während der Finanzkrise 2009. Für das reale BIP 2020 gehen wir von einem Minus von 6,2 % für die Eurozone aus. Für Deutschland rechnen wir mit einem Minus von 4,7 %. Dennoch: Die Prognoseunsicherheit bleibt nach wie vor äußerst groß.

Was ist anders als bei der Finanzkrise 2008/09?

Anders als in der Finanzkrise von 2008/09 war dieses Mal klar, wer der Feind ist. So konnten die Behörden gesundheitspolitisch, aber auch mit Fiskal- und Geldpolitik, rasch einschreiten. Anschliessend entwickelten sich die Fallzahlen, aber auch das Geschehen an den Finanzmärkten und in der realen Wirtschaft, nach einem gewissen Drehbuch, da man sich am Verlauf in China orientieren konnte. 2008 und 2009 löste eine äußerst lockere Geldpolitik Inflationsängste aus, die sich nie bewahrheiteten. Solche Ängste gibt es auch heute. Aufgrund der tiefen Energiepreise dürfte die Inflation 2020 aber sehr gering ausfallen. Anleger haben Zeit, künftige Inflationsrisiken einzuschätzen. Mittelfristig müssen abweichende Merkmale zwischen der Finanzkrise und der «Corona-Rezession» betrachtet werden, um mögliche Inflationsgefahren zu identifizieren. Nach 2008 wirkten sich Sparmaßnahmen disinflationär aus. Heute sind Fiskal- und Geldpolitik besser koordiniert, was potenziell inflationär wirkt.

Und was bedeutet das konkret?

Angst vor steigender Inflation ist eine typisch deutsche Reaktion auf akkomodierende Geldpolitik. Man sah dies bis 2012, obwohl die effektiven Daten stets zeigten, dass die Panikmacher falsch lagen. Das Gleiche geschah mit den nun koordinierten geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen. Vorausgesetzt die Energiepreise schnellen nicht plötzlich nach oben, dürfte die Gesamtinflation in Deutschland bis Ende 2021 unter 2 % bleiben.

Weltweit sind die wirschaftlichen Auswirkungen der Pandemie aber weitaus dramatischer?

Eine Folge von COVID-19 dürfte eine teilweise Deglobalisierung sein. Dies löst nicht zwingend eine Inflationsspirale aus, weil die Hersteller höhere Produktionskosten nicht ohne weiteres auf ihre Kunden überwälzen können. Die aktuelle wirtschaftliche Lage wird häufig fälschlicherweise mit Situationen am Ende eines Krieges verglichen, auf die oft eine Inflation folgte: Der Angebotsschock infolge der zeitlich begrenzten Lockdowns führte zu einer beispiellosen Unternutzung von eigentlich intakten Kapazitäten in der Infrastruktur, der Produktion und im Arbeitsmarkt. Die dadurch entstehende Produktionslücke muss geschlossen werden, bevor zunehmende Inflation ein großes, langfristiges Risiko darstellt.

Wie steht es aus Ihrer Sicht um Deutschland? Kommen wir mit einem blauen Auge davon?

Verglichen mit den meisten anderen EWU-Ländern scheint Deutschland in der Tat bei der Pandemie und der folgenden Rezession mit einem «dunkelblauen Auge» davonzukommen. Geschäftsklimaindizes und Konsumentenstimmung fielen so schnell wie noch nie. Seit Mitte Mai ist jetzt aber mit zunehmender Lockerung der Eindämmungsmasnahmen eine allmähliche Verbesserung der Unternehmerstimmung festzustellen. Weil Deutschlands Gesundheitswesen durch die Pandemie nie auch nur nahezu überlastet war, dürfte sich das Land früher erholen als andere große Länder in Europa. Das bewährte Kurzarbeiter-Programm und weitere Fiskalpakete in Höhe von über 10 % des nominalen BIP werden die schrittweise Erholung im zweiten Halbjahr 2020 stützen. Dass viele Deutsche nun ihren Urlaub im eigenen Land verbringen, werden, ist zudem eine zusätzliche Stütze für die Binnenwirtschaft.

 

Marc Brütsch ist seit Abschluss des Studiums der Nationalökonomie und der Publizistikwissenschaften an der Universität Zürich ist er für Swiss Life tätig. In den Jahren 1996 und 1997 lebte und arbeitete er in England. Anschliessend übernahm er die Verantwortung für die Konjunkturanalyse als Grundlage der gruppenweiten Anlageentscheide bei Swiss Life. Seit März 2000 bekleidet er die Funktion des Chief Economist von Swiss Life Asset Managers. Wie auch bereits für die Jahre 2015 und 2017 zeichnete die Firma Consensus Economics in London ihn und sein Team jüngst für das Jahr 2019 mit dem seit 2013 vergebenen Gütesiegel „Forecast Accuracy Award“ für die beste Prognose zur Konjunktur in der Schweiz aus. Den gleichen Preis gewann er für 2019 erstmals auch für seine Prognosen für die Eurozone.

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